Echte Männer weinen nicht

 

Depression

 

Leben unter dem schwarzen Schleier

 


Autobiografie schreiben 

Heute bin ich froh, dass ich überlebt habe. Düstere Jahrzehnte des Leidens verbrachte ich. Ein Kampf um Leben und Tod.

Schreiben über sich ist eine Möglichkeit, ruhig zu werden, eignet sich hervorragend über sich selbst mehr zu erfahren, was war und wie es geworden ist. Es entlastet und kann der Seele helfen, Eingenistetes zu entwirren und Quälendes zu verarbeiten. Mit Schreiben der eigenen Geschichte führt ein roter Faden durch das Gewordene, der nicht reißt, wie es im Gesprochenen leicht geschieht. Es führt zu einem Verstehen des eigenen Lebens, macht den Sinn des Seins deutlich und lässt dadurch viel Verborgenes zum Vorschein kommen. Schreiben einer Biografie lässt die Nachkommen am Werden der eigenen Familiengeschichte teilnehmen.

Am Anfang jeden Lebens steht die Aufforderung an die Eltern: Öffne mir das Tor zum Leben. Das kann durch Diskussionen über das Leben an sich geschehen, was bei mir fehlte. Gespräche fanden nicht statt, höchstens unter uns Geschwistern. Vielfach stoßen die Kinder auf eigene Initiative ohne Vorbereitung die Tür auf. So war es bei mir. Ich habe sie leichtsinnig aufgestoßen und habe als Greenhorn mich in die weite Welt hinaus katapultiert.

 

Schreiben ist müh­sa­mer, als sie münd­lich wei­ter­zu­ge­ben, die eigene Lebensgeschichte, hat aber den Vor­teil, dass alle davon pro­fi­tie­ren kön­nen — selbst die Genera­tio­nen, die wir heu­te noch nicht ein­mal ken­nen.

Wich­tig ist, sich genü­gend Zeit zu neh­men.

Und weil Schreiben auch immer eine span­nen­de Rei­se zu uns selbst sein kann, soll­te man bio­gra­fi­sches Schrei­ben auch unter dem Aspekt „der Weg ist das Ziel“ sehen

 

Agentur für Biografien

Inhaberin: Dr. Susanne Gebert

 

      

Öffne mir das Tor zum Leben

 

Das imaginäre Buch

Fiktive Geburtstagsgedanken zum 70sten,

1972 in einer depressiven Stimmung geschrieben

 

 

 

 

Mein Blick gleitet durch das offene Fenster zwischen den beiden Häusern durch in die Ferne. Ich sehe nichts, nicht die Bäume am Horizont ‒ nichts, das heißt, ich nehme nichts wahr. Ich schließe die Augen, um mein in mich gekehrtes Sinnen konzentrier-ter zu fühlen. Die Gedanken kreisen wie ein Schwarm wild gewordener Krähen um einen Bussard, um meine einzige Frage: Soll ich noch weiter durch den Herbst des Lebens ziehen? Und es ist wie immer: Wenn ich mir diese Frage stelle, triftet diese weg, wie der Bussard, der den angreifenden Krähen ausweicht. Ein neues Annähern führt die Gedanken, den Krähen gleich, ins Leere. Ich habe keine Antwort, finde keinen Ansatz. Angst, Zweifel, dann wieder Hoffnung. Mein Denken, gefesselt in einer Düsterheit, ver-harrt. Meine Hände liegen auf der Tischkante, der Rücken kerzengerade ‒ auf dem Stuhl sehe ich aus wie eine Ikone. Wenn das Ticken der Neuenburger-Pendule nicht verraten würde, dass Zeit verstreicht, wäre der ganze Raum ein Standbild.

 

Mein Kopf fällt kraftlos nach vorn und das Kinn berührt fast die Brust, mein Rücken krümmt sich. Gebrochen lehne ich mich nach hinten an die Stuhllehne. Die Hände gleiten auf die Oberschenkel. Mein Brustkorb spannt sich. Mit Zischen strömt die Luft zwischen den Zähnen raus ‒ spannen und zischen. Mein Kopf hebt sich, ich öffne die Augen, sehe mit meinem geistigen Auge das imaginäre Buch vor mir auf dem Tisch. Mein „Buch“. Aufgeschlagen auf der letzten Seite. Ich hebe die Hände, strecke meinen Rücken und beuge mich nach vorn. Die Hände gleiten über das „Blatt“ – sanft. Vorhin hatte ich die letzte Zeile „geschrieben“, war unten angelangt ‒ auf Seite 25’578.

Behutsam fasse ich das fiktive „Buch“ und hebe es hoch. Es wiegt schwer. Der Ledereinband gibt preis, dass der Inhalt der Erzählung voller Leben ist, dass Freud und Leid tief bewegt unauslöschlich eingeritzt sind. Dieses Buch hatten meine Eltern angelegt, nicht wissend, wie viele Blätter es haben werde, mit einem Prolog ‒ dem Zeugungsakt und der Schwangerschaft, was ich nicht lesen kann –, dem Titelblatt, der Geburt. In Zierschrift schön „geschrieben“ steht der Name und darunter kleiner: 26. Juli 1942 und kleiner: 18 Uhr 35. Es folgt Blatt 1, und das habe ich zu „beschreiben“ begonnen und bis heute nicht aufgehört – 25’578 „Blätter“ sind es geworden, dicke „Blätter“ und die wiegen schwer. Und ich erinnere mich nur mit Mühe der vielen Geschehnisse, den einen mehr, den anderen weniger oder gar nicht.

 

Ich bin in der Phase, wo ich in Gedanken das „Buch“ durchstöbere. Auf den Blättern des Frühlings, von dem ich nicht viel lesen kann, liegen Schatten, die sich langsam verziehen und in einen Sommer führen, dessen Blätter „beschrieben“ sind. Erfolge und Niederlagen prägen diese Zeit des Sommers, bis die größte Katastrophe eintritt, die des Arbeitsverlustes. Und „blättere“ nun im Herbst. Wann war ich da angelangt? Schleichend hat er begonnen, der Herbst. Unmerklich färben sich seit einiger Zeit die „Blätter“. Das letzte „Blatt“ liegt vor mir – mit der Zahl 25’568, und es war 18 Uhr 30 am 26. Juli 2012. Und da ist sie, die Frage, die mich verwirrt. Noch fünf Minuten ‒ und, soll ich noch „schreiben“, ein neues „Blatt“ beginnen? Ich mit meinen Depressionen? Ich habe gesagt, so wolle ich nicht siebzig werden. Und jetzt?

 

Die Erinnerung an Susanna drängt sich dazwischen. Die Zeit auf „Blatt“ 25’578 schrumpft und der Zeitpunkt, wo ich mich entscheiden muss, wo es kein Ausweichen mehr gibt, ist nahe ‒ noch zwei Minuten.

 

Vor Kurzem habe ich gelesen, dass im Jahr 2010 die durchschnittliche Lebenserwartung 81 Jahre beträgt. In zwei Minuten muss ich entweder das „Blatt“ wenden, oder ... durchschnittlich würden mir noch elf Jahre bleiben. Ein sarkastisches Lächeln. Ich hätte die Gelegenheit gehabt, mich bei einer der Sterbehilfsorganisationen zu melden, hätte deren Hilfe für meinen Suizid in Anspruch nehmen können. Doch ich bin aus ethischen Gründen vehement dagegen. Mit Suizid Geschäfte machen, verstößt gegen jegliche menschliche Ethik. Nein, das darf auf dieser Welt nicht sein – meine Überzeugung. Ich bin Atheist. Menschenrechte und Ethik finde ich als die einzige Grundlage für ein weltweit verbindendes Zusammenleben – sollten in allen Schulen der Welt gelernt werden. Wenn ich das „Messer“ auf dem Tisch – das nicht da ist ‒ nehmen und mir die Halsschlagader durchstechen würde, wäre das mein Recht. Jemanden dabei haben, der mich begleitet, mir das Messer gäbe, der oder die noch Geld verdienen würden, wäre widerlich. Nein, so nicht. Bei diesen Gedanken steigt eine Erregung hoch. Für einen Moment pulsiert Energie durch meine Adern. 18 Uhr 34. Meine Gedanken am Aufflammen; werden sie im letzten Moment zusammenbrechen und ich in Resignation meinen letzten Schritt auf Seite 25’568 ausführen? Ich denke an Susanna ‒ immer wieder Susanna.

 

Sie steht hinter mir ‒ imaginär. Seit 45 Jahren leben wir zusammen. Entschlossen, gemeinsam durch die Zeiten und jetzt durch die des Herbstes zu ziehen – mutig, mit Freude und Vertrauen. Von ihrer unsichtbaren, der gedachten Hand auf der rechten Schulter strömt eine wohlige Wärme bis in den Arm. Das sanfte Streicheln ihrer linken Hand über meine Glatze weckt ein Urvertrauen, das ich kurz verloren hatte.

„Tu‘ es für mich, Heinz“, sagt die imaginäre Susanna, „und für die Kinder und Enkel. Schreib weiter.“ Ihre leisen, weichen, gedachten Worte legen sich wie neue, grüne Blätter in meine Seele.

 

Ich hatte für einen Moment am Sinn des nächsten „Blattes“ gezweifelt, wollte es nicht mehr wenden, nicht mehr „beschreiben“. Ich habe meinem Denken, ob ich älter als 70 werden wolle, nachgehangen. Mein Kopf dreht sich langsam nach hinten, suche Susannas imaginäre Augen. Meine linke Hand strecke ich zum „Buch“, ergreife „Blatt“ 25’578, ziehe es hoch und klappe es langsam hinüber – 18 Uhr 35. Die Sonne scheint noch am Himmel. Sie steht am gleichen Ort, wo sie vor 70 Jahren gestanden hat und ich ihr Licht erblickt habe.

„Ich werde das „Blatt“ „beschreiben“ ... an deiner Seite“.

Mein Lächeln ist die erste Zeile auf dem „Blatt“ – kämpferisch steht es. Mir scheint, das „Blatt“ sei bunter ‒ ... 26. Juli 2012, 18 Uhr 36, Seite 25’579.

Mein Herbst erstrahlt im Moment in voller Pracht.

 

Im Herzen das Glück

 

In der Zeit liegt's,

            das Glück,

nachdem wir uns so sehnen,

jedoch,

            es ist nicht zu fassen,

nicht mit Händen,

sondern nur

mit dem Herzen zu erleben

und,

            ist das Herz verhärtet

wird es nicht lächeln,

wird es nicht verweilen

und im Lauf der Zeit aufgefressen,

überdeckt,

von Zwist und Hader weggeschwemmt

            und in Leere verfallen.

 

Viele wähnen es

            bei den Andern,

bei jenen,

die so herzig lächeln,

            im TV, in der Reklame,

beim Glamour der Reichen und Schönen,

die im Rampenlicht vorgaukeln,

            der Nabel der Welt zu sein.

Dabei liegt das Glück

            so nah in der Einfachheit,

nämlich bei mir

            – im Herzen.


 

Auf, gehe, schreite den Weg des Lebens

 


Prolog ‒ 2020

 

Die vorherigen Gedanken habe ich vor acht Jahren, 2012 war es, zu meinem 70sten Geburtstag still geschrieben. Habe mir neuen Mut zugesprochen – das erste Niederschreiben meiner Geschichte war bruchstückhaft, nicht leserlich für Außenstehende. Heute ist der erste Oktober. Ich will nun versuchen, sie zu verbessern. Dennoch werde ich das Gefühl nicht los, es habe sich gelohnt, dieser erste Versuch des Schreibens. Durch das tägliche Schreiben von damals wurde ich in meiner Auseinandersetzung mit meinen Erlebnissen herausgefordert. Ich musste hinsehen was war, wie es geschehen ist und was sich daraus entwickelt hat. Nach diesem Schreiben war ich frei von düsteren Gedanken, frei von Depressionen und die sind seit acht Jahren fast nicht mehr aufgetreten. Ich bin gesund! Mit Tabletten.

 

Ich habe den Eindruck, mein Leben mehrheitlich in der Depression verbracht zu haben; immer wieder von der dunklen Tante mit der hässlichen weißen Fratze mit deren schwarzem Schleier zugedeckt worden zu sein. Warum war es mir nicht möglich gewesen, wegzutreten? Eine schier sechs Jahrzehnte dauernde Depression begleitete mich.

Es gibt ein Sprichwort: Wie man sich bettet, so liegt man - oder: Jeder ist seines Glücks eigener Schmied.

Dem kann ich nicht voll und unüberlegt zustimmen. Man kann seinem Leben und seinem Inhalt gewichtige Impulse geben, das ist wahr. Und es klettern viele die Karriereleiter empor und viele leben ein glückliches Dasein, auch ohne hochgepriesene Karriere. Doch in vielen Leben ereignen sich unzählige und oft unerklärliche Geschehnisse, die Wirkung in unterschiedlichsten Formen haben. Sie schlagen sich in der Lebensgestaltung, der Gesundheit und vor allem in der Seele nieder und haben Auswirkungen. Die Betroffenen haben oft keine Möglichkeit ihrem Schicksal auszuweichen, sind gefangen von Unerklärbarem, Unheilbarem. Nicht alle stehen auf der Sonnenseite. Ich war in der Depression gebunden, geknebelt ‒ und ich wusste nicht warum. Ich lag nicht die ganze Zeit in diesem Zwang. Momente des Glücklichseins kostete ich. Warum überschwappten mich Depressionen ‒ immer wieder?

 

Blicke ich heute auf mein gelebtes Leben zurück, stehe ich mitten in einem vierdimensionalen Scherenschnitt ‒ den drei Raumdimensionen und der Vierten, derjenigen Dimension der Erinnerung, einer gebrochenen zwar. Ich stehe in diesem unbeholfen angefertigten Scherenschnitt voller großer Lücken, zerstört, zerrissen von wiederkehrenden Depressionen, durch den meine Lebensleiter in die Höhe reicht. Auf der achtund-siebzigsten Sprosse verharre ich und staune in eine Welt zurück, die auf einen Blick nicht zu erfassen ist, in der unzählige Schnipsel fehlen und der Scherenschnitt in einem Wirrwarr über mir sich weitet. Ich stehe in einer Zeit, in der alles ist: die Vergangenheit, die Gegenwart und die kommende Zeit, die dauernd läuft, während ich hier sitze und schreibe. Mein Leben zu schreiben dauert und da fließen die Gedanken in einem Augenblick, sind gebündelt in einem Fluss des Gestaltens. Es ist ein Wunsch von mir, mein Leben zu erfassen, hinzusehen was war, warum es so geworden ist, und das will ich für meine Nachkommen aufschreiben.

 

 

 

Die Bibliothek

 

Nicht in Resignation

darf ich verrotten,

meine Gedanken

nicht in einer Verbitterung

strangulieren. 

Das gewonnene Wissen,

die Einsichten,

die Lebenserfahrungen,

die Freuden,

da, wo sie Wahrheit waren,

aber auch meine Irrungen

und mein unsägliches Leiden,

sollen die Bibliothek bleiben,

in der ich bis zuletzt

im Fundus meines Gewordenen

graben kann.

 

 

 

Mueti

Mutter

Nicht verzagt

Trotz der Last

Blieb der Familie Herz

Zuversicht 

 

Wer hat dieses Foto geknipst? Es war im Sommer 1945, das ist sicher und auf den Auslöser hat Walter Lüthi gedrückt. Er war Aushilfskäser, der nach dem Tod unseres Vaters, am 4. August 1944, im darauffolgenden Oktober in unser Leben getreten ist. Dass ich sicher bin, dass er auf den Auslöser gedrückt hat, ist der Umstand der Liaison zwischen ihm und unserer Mutter. Die Hochzeit stand zu dieser Zeit bevor. Das Bild zeigt eine starke Mutter mit ihren fünf Kindern, die er, der Fotograf, heiraten wird. Ja, unsere Mutter war eine starke Frau - 30-jährig und verwitwet mit fünf Kindern und Geld war keines vorhanden, keine Witwenrente, keine Halbwaisenrente - nichts.

 

Sie hatte eine schwere Zeit hinter sich, war ein hartes Leben gewohnt. Früh musste sie schwere Schicksalsschläge hinnehmen. Sie war am 3. April 1915 in armen Verhältnissen auf der Steinereweid bei Grosswangen geboren. Ihr Vater starb, als sie 5-jährig war. Sie hatte das Glück, dass sie und ihr Bruder Alfred bei der Mutter bleiben konnten, während ihre Schwestern Emmi und Ottilia in Familien der Verwandtschaft unterkamen. Ihre Mutter heiratete einen Bauern Glauser, und so wuchs sie auf dem Wellberg auf. Mit der Stieffamilie kam sie nicht gut aus, und die Kontakte brachen ab, als sie weggezogen war.