Drei aus Bern und Rod  Leseprobe

Ein Thriller  ISBN  978-3-7584-1515-9

 

Seit Tagen lag eine Hitze über der Stadt. In die tiefsten schattigen Winkel der Berner Gassen zwängte sie sich. Die Menschen stöhnten. Sie würden liebend gerne sich möglichst nicht auf die Strassen, nicht in die Gassen begeben. Es gab meist keine Alternative. Die Arbeit zwang sie nach draussen. Und die Einkäufe mussten sie machen. Hunger und Durst stellen sich selbst in der Hitze ein. Die in einer Reihe liegenden Terrassen-

restaurants am Bärenplatz waren trotzdem meist zahlreich besetzt. Durst gab es alleweil. Schatten spendeten die Sonnenschirme. Lästig zwischen Marktständen und den Tischen stehend, waren sie den durchgehenden Passanten im Weg. Der Bärenplatz war gut frequentiert von Restaurant-gästen und vorbei ziehenden Menschen. Eric sass an diesem Donnerstagabend an einem Tischchen beim Restaurant Le Mazot. Eingebettet zwischen dem 800-jährigen Käfigturm und einer altehrwürdigen Häuserfront, war es ein Hotspot. Er liebte diesen Ort. Wenn es ging, sass er gerne an einem Tischchen, das ausserhalb der Terrasse direkt auf dem Bärenplatz stand. Die Wirte hatten die Erlaubnis, die Tische soweit hinauszustellen. Es musste genügend Distanz zwischen Tischen und Marktständen sein. Hier konnte er, Eric, dem Treiben auf dem Platz zusehen. Gleich vor ihm befand sich ein Blumenstand. Die Verkäuferin hatte um diese Zeit regen Betrieb. Heute wollten viele Männer auf dem Nachhauseweg rasch einen Strauss für die Frau posten. Oder war er für die Geliebte? Sonnenblumengestecke waren gefragt. Eric war Medizinstudent. Er hatte Semesterferien. Häufig hielt er sich bei seinem Onkel im Inselspital auf. Er musste sich zurzeit entscheiden, welche Richtung er einschlagen wollte. Im Moment überlegte er sich, ob die Chirurgie eine Möglichkeit für ihn wäre. Er konnte sich nicht zu einem Entschluss durchringen. Das, was er bei seinem Onkel sah und hörte, interessierte ihn zwar. Doch ihm fehlte die Überzeugung. Unter dem, was er sich als Arzt vorstellte, war die Chirurgie im Grund genommen nicht. Das war ihm recht klar. Mit dem Onkel konnte er es prima. Er besuchte ihn oft, wenn es eine Pause gab. Heute war er bis halb vier bei ihm, konnte bei einer Operation zusehen. Nachher ging er ins Marzili zum Schwimmen. Das tat gut. Es war ein Genuss, bei diesem wolkenlosen Himmel im Wasser zu liegen. Er war heute nicht in der Aare. Das wollte er zwar, traf Fred und Monika und sie liessen es im Schwimmbecken sein. Fred war Architekt und führte mit Monika ein eigenes Geschäft. Um sechs Uhr machte er sich auf, um im Le Mazot auf Evelyn zu warten. Zudem liebte er den Bärenplatz. Als er sich setzte, verabschiedete die Verkäuferin am Blumenstand einen Kunden, der voller Humor war und die Verkäuferin zum Lachen brachte. Es war ein helles, wohltuendes Lachen. Eric war gerne hier, um die vielen verschiedenen Leute zu beobachten. Da flanierten Touristen, Frauen, Männer und Kinder, Banker, Handwerker, Politiker vom nahen Bundeshaus; Bundesräte gingen hier durch. Das liebte er – Menschen aus dem täglichen Leben zu sehen. Es war bald Viertel vor sieben, in Kürze werde Ev kommen, sinnierte er. Da trat eine Frau an seinen Tisch.

«Ist hier frei? Ist es erlaubt?», fragte sie und wies auf den Stuhl, der einzig Freie an diesem Tischchen. Die Frau mochte um die fünfundfünfzig sein, schätzte Eric. Sie machte ihm einen eigenartigen Eindruck. Trotz der Sonnenbrille meinte er, Angst in ihrem Gesicht zu erkennen.

«Ja, bitte. Nehmen Sie Platz», antwortete er. Ev, wenn sie kam, würde einen Stuhl von einem anderen Tisch holen. Er nahm einen Schluck und liess sich das zwar wärmer gewordene Bier schmecken.

«Heiß ist es heute», sagte er.

«Ja.» Die Frau schien nicht an einem Gespräch interessiert. Auffällig nervös schaute sich um, beobachtete die Leute. Sie machte den Eindruck, als ob sie auf dem Sprung wäre. Die Bedienung kam und erkundigte sich nach dem Wunsch. Sie bestellte ein Mineral. Die Frau trug ein violettes Top, hellgraue Hosen. Trotz der einfachen Kleidung stufte Eric sie in die High Society ein. Ihr Gesicht war gepflegt. Die Haare verrieten ihr Alter. Ihre Augen hatte er wegen der Sonnenbrille nicht gesehen. Die Frisur war schlicht, ordentlich. Das dunkelbraune Haar – es hatte graue Strähnen – war aus der Stirne nach hinten gekämmt. Ihre Ohren waren frei. Attraktiv geformte Ohren, stellte Eric fest. Überhaupt fand er die Frau hübsch, anmutig. Eine Frau zum Gernhaben, lächelte er in sich. Es war eine kurze Zeit vergangen, da richtete sie sich auf und schaute zu Eric. Sie schob die Sonnenbrille hoch und liess sie auf dem Haar ruhen.

‚Mensch, ist die hübsch. Ihre Augen – diese Angst‘, dachte Eric.

«Entschuldigen Sie, darf ich Sie etwas fragen?», sagte sie leise mit einer Stimme, die ihn faszinierte. Sie klang geheimnisvoll, rau. Ihr Blick geisterte besorgt umher. Sie zuckte zusammen, wenn sie neue Leute sah, die an ihnen vorbei gingen.

«Ja, bitte.»

«Es ist ... ich weiss nicht ... das heisst, ich bin in einer schwierigen Situation ... »

Eric dachte, hellhörig geworden: Die will mich nicht etwa anpumpen!

«... es ist so: mein Mann ist ich weiss nicht wo. Auf dem Handy kann ich ihn nicht erreichen. Er nimmt nicht ab. Und er weiss nicht, wo ich bin. Wir haben, als wir uns trennten, abgemacht, dass wir uns am Sonntag um zwei Uhr, wenn wir uns durch irgendwelche Umstände nicht erreichen können, in Konolfingen treffen wollen.» Sie schwieg einen Moment.

«Warum gehen Sie nicht zur Polizei?», fragte Eric. Die Frau fuhr merklich zusammen. Die Angst wurde größer.

«Das ... geht nicht. Ich weiss nicht. ... es ist schwierig ... Sie können das nicht verstehen, ich weiss. Ich habe große Angst. Ich glaube, ich kann nicht nach Konolfingen gehen. Würden Sie für mich gehen? ... er soll ins Hotel National kommen.» Sie schaute unruhig um sich.

«Hallo, mein Lieber», sagte eine junge Frau neben Eric. Eine Hand fuhr ihm über die Haare. Er stand auf, umarmte sie und küsste sie innig.

«Ev, du bist schon da? Wie schön. Warte, ich hole dort einen Stuhl», sagte er. «Ist nicht nötig. Die Frau geht», stellte Evelyn fest.

«Sie müssen nicht gehen. Warten Sie ... » Die Frau hatte ein Fünffrankenstück auf den Tisch gelegt. Eilig ging sie Richtung Käfigturm weg.

«Was ist mit der los? Komisch.»

«Trauerst du ihr nach? Habe ich dir die heimliche Freundin vertrieben?», sagte Evelyn.

«Ja, ich wollte sie dir heute vorstellen und erklären, dass wir in Bigamie zusammenleben werden. Dereinst, wenn wir zusammenziehen. Sie wäre wie die reife Frau für mich, während du das Nestküken wärst.»

«Ah, hast du es dir ausgedacht. Hübsch ist sie. Du hast Geschmack.»

«Findest du das, weil du dir einbildest, du wärst hübsch? He, was stehen wir herum. Setz dich» Eric schob ihr den Stuhl zurecht.

Da kam die Bedienung mit dem Wasser.

«Entschuldigung, ... ist die Dame ...?»

«Sie hat Geld hingelegt und ist gegangen», erklärte Eric.

«Oh, wissen Sie was – ich nehme gerne das Mineral. Aber ich möchte es selber bezahlen. Nehmen Sie die fünf Franken, es ist ein Geschenk des Himmels für Sie. Hier haben Sie mein Geld», sagte Evelyn, die sich gesetzt hatte und der Kellnerin das Geld entgegenstreckte.

«Ach, lassen Sie ... »

«Nein, nein, ich kann nicht von so was profitieren. Nehmen sie das Geld», drängte Evelyn.

Die Kellnerin gab nach, bedankte sich und ging ihren Geschäften nach.

«Das wegen deiner Bemerkung, ich sei eingebildet, bedarf einer dringenden Klärung. Ich bilde mir nicht ein, hübsch zu sein, sondern: ich bin es. Das bezeugen mir Tausende von Männerblicken, die mich fast umwerfen. Ebenso die dauernden Pfiffe hinter meinem Rücken. Das kannst du von dir nicht sagen, Herr Doktor. Aber dass du ein Flair für reife Frauen hast, beunruhigt mich. Leidest du unter einem ungelösten Mutterkomplex?»

«Ja, mag sein. Die Muttermilch vermisse ich. Liebling ...« Eric lehnte sich zu Evelyn und drückte ihr einen Kuss auf die Wange, «... du musst meine Mutter werden, sonst werde ich verrückt.»

Evelyn lachte und streckte sich: «Das werde ich sicher nicht, mein Lieber. Was war das für eine Frau, vorhin? Du hast dich mit ihr unterhalten. Warum ging sie so plötzlich?»

«Ich weiss nicht, sie war komisch. Und diese Angst in ihren Augen – auf dem ganzen Gesicht. Sie hat etwas von ihrem Mann gesagt. Wisse nicht, wo er sei und dann Konolfingen, und ob ich hingehen könne?»

«Warum ist sie so schnell verschwunden?»

«Keine Ahnung. Was soll’s. Du bist früh. Es ist nicht sieben.»

«Frau Podolsky hat mich entlassen, damit du nicht länger allein seist, meinte sie. Nein, ich war mit meiner Arbeit früher fertig. Da fragte ich sie, ob ich gehen könne. Sie ist ein Schatz.»

«Aber sie weiss, was sie an dir hat, meine Liebe. Eine MODEDISIGNERVERKÄUFERINPUTZFRAU und mehr – findet sie nicht leicht. Du bist eine Perle, nicht nur für sie. Weisst du das?»

«Ich freue mich, wenn ich an deinem Hals hängen werde. Meine Chefin ist eine taffe Frau und mir wohlgesinnt. Heute durfte ich eine Politikerin, Myra Holdener, stinkreich, beraten. Ich entwarf ihr nebenbei ein Kleid, und sie hat es bestellt. Das macht Spass. FDP, nicht meine Partei, würde sie nicht wählen, zu zickig. Jetzt bin ich bald ein halbes Jahr dort und glaube, am richtigen Ort zu sein. Es ist ein Geschäft für alle Leute. Ich berate Frauen mit niedrigem Einkommen, die gerne gute Mode tragen. Es ist ein Haus mit zwei Abteilungen. Eine für Marie-Normalverbraucher und eine andere für die Ladys. Ich arbeite gerne für die Normalverbraucher. Die Beratung ist menschlicher, näher an den wahren Bedürfnissen und Wünschen. Ich bin froh, dass ich hin und her switchen darf. Und du, was hast du gemacht?»

«Oh, zwei Blinddarme operiert, drei Arme angenäht und ein Auge ersetzt. Natürlich nichts, ich bin nur herumgestanden, gesessen und habe diskutiert. Mir die Chirurgie von meinem Onkel zum x–ten Mal erklären lassen. Er findet, ich sollte in seine Fussstapfen treten. Meine Eltern drängen mich zusätzlich. Ich weiss nicht, es ist nicht mein Ding, die Menschen aufzuschneiden. Ich bin mehr für die medizinische Diagnostik. Ich möchte nicht Spezialist, wie Urologe oder Neurologe oder so werden. Mehr und mehr spüre ich, dass ich mit den Menschen Kontakt haben muss, sie beraten. Zudem in der Vorsorge tätig sein. Da sehe ich mein Interesse. Es ist mir bewusst, dass ich als allgemein praktizierender Arzt deutlich weniger verdiene. Es geht doch nicht einzig um das Geld. Ich denke, die Zufriedenheit ist mehr wert.» «Das finde ich ebenfalls, und das gefällt mir an dir, Eric. Und etwas liebe ich – du hast mit keinem Wort die unerträgliche Hitze erwähnt. Heute stöhnt jeder Mann, jede Frau das gleiche Lied. Ich finde es heiss, aber immer dieses Gejammer? Du, was wollen wir mit diesem angebrochenen Donnerstagabend anfangen?»

«Hm, Ev, darüber habe ich nachgedacht. Im Bierhübeli ist ein French Jazz Orchestra. Das würde mich interessieren.»

«Ja, Jazz verachte ich heute nicht. Ich wäre dabei. Vorher könnte ich eine Pizza vertilgen. Was meinst du?»

«Ab in die Pizzeria Il Grissino, gleich da drüben. Komm, wir gehen, bezahlt haben wir», sagte Eric.

Und sie verliessen das Le Mazot, querten den Platz und schlängelten sich durch die Leute, die wegen des donnerstäglichen Abendverkaufs in Massen durch die Gassen zogen.

 

***

 

Bern, 15. August (23 Uhr 23) – Telefon Nakamura – Schärz

«Olaf, erstes Ziel erledigt.»

«Welches?»

«Die Frau.» 

Zug, 15. August (23 Uhr 26) – Telefon Schärz – Kübler

«Entschuldige die späte Störung. Eben habe ich die Meldung erhalten, dass sie in Bern erledigt wurde. Er ist noch flüchtig.»

«Ich werde umgehend mit der Bernerpolizei in Kontakt treten und ihn des Mordes bezichtigen. Die Beiden hatten Streit wegen des Tötungsversuchs. Und während der Arbeiten im Labor hast du Streitereien mitbekommen. So sagen wir es, und so muss es sein. Du bist Zeuge und als integrere Person bist du glaubwürdig. Das ist eine plausible Erklärung. Oder findest du nicht?» «Tönt plausibel.»

 

***

 

Eric streckte sich und füllte den Brustkorb mit Luft. Langsam liess er sie durch den Mund ausströmen. Er hatte gut geschlafen und fühlte eine wohlige Wärme, zog die dünne Decke weg. Seine Gedanken kreisten um Evelyn. Die Frau faszinierte ihn. Er traf sie vor drei Wochen anlässlich einer Vernissage. Hatte ein Gefühl, das er bisher bei keiner Frau  gespürt hat. Liebe auf den ersten Blick war es nicht. Nein, es war etwas anderes, etwas Vertrautes, das sie ausstrahlte. Evelyn Bobst war dreiundzwanzig, ein Jahr jünger als er. Sie war eine selbstbewusste Frau, neugierig und voller Humor. Sie konnte ernst sein und dachte über die Welt und deren Probleme nach. Seit sie sich regelmässig trafen, führten sie anregende Gespräche. Das gefiel ihm ausserordentlich, da es nicht um die Karriere und den sonstigen Studentenmief ging. Sie hatte tiefgründige Gedanken und Ansichten – und hatte meistens recht. Eric wälzte sich aus dem Bett. Es war zwanzig nach acht. Er ging in die Küche und setzte die Kaffeemaschine in Gang. Schnell bereitete er den Frühstückstisch zu. Schlüpfte in den Morgenmantel, um die Zeitung unten im Briefkasten zu holen. In den Boxershorts wollte er nicht runter gehen. Eric wohnte im dritten Stock eines Hochhauses im Holenacker. Normal benutzte er die Treppe, heute entschied er sich für den Lift. Er traf niemanden an. In Gedanken versunken entnahm er unten die Zeitung aus dem Briefkasten. Als er hineinging, traf er auf Frau Sutter vom ersten Stock. Sie grüßte, musterte ihn argwöhnisch. Bald halb neun und noch nicht angezogen. Das entging der neugierigen Frau nicht. Während Eric auf den Lift wartete, durchstöberte er die Zeitung nach den Schlagzeilen. Da stockte er und verharrte auf einem Text. Daneben ein Bild einer Frau.

‚Polizeilich gesuchte Biologin in Hotelzimmer ermordet aufgefunden‘.

Der Lift war längst unten, ohne dass es Eric bemerkte. Setzte sich wieder nach oben in Bewegung. Eric las den Text neben dem Foto von Frau Wyder, vor der Lifttür stehend.

‚Die von der Zugerpolizei zur Verhaftung ausgeschriebene Biologin Paula Wyder wurde gestern Morgen tot in ihrem Zimmer im Hotel National aufgefunden. Die Todesursache ist zurzeit nicht bekannt, doch wurde mitgeteilt, dass sie ermordet wurde. Der Tat dringend verdächtigt wird ihr Ehemann, Professor Karl Wyder, der gesucht wird. Wie die Zugerpolizei mitteilte, wird das Ehepaar wegen Werksspionage und der versuchten Tötung gesucht. Sachdienliche Hinweise über den Gesuchten sind erbeten an die Kantonspolizei ... ...‘

Eric wurde durch die sich öffnende Lifttür zurückgeholt. Einen Schritt zurücktretend, liess er das Ehepaar Stadler von oben durch.

«Guten Tag, Herr Saner. Ist heiss heute. Es ist nicht mehr zum aushalten. Einen schönen Tag wünschen wir ihnen», sagte Frau Stadler und ihr Mann nickte. Dass ein junger Mann um diese Zeit im Bademantel herumstand, konnten sie nicht begreifen.

«Wir sind von einer anderen Generation», hörte Eric ihn sagen, bevor die Tür zuschloss. In seinem Kopf waren die Gedanken wirr. Die Frau war am vergangenen Donnerstag bei ihm im Le Mazot. Und die Angst war real. Und jetzt war sie tot. Von der Polizei gesucht ... Darum war sie erschrocken, als er erwähnte, sich bei der Polizei zu melden. Und ihr Mann war irgendwo. Sie könne ihn telefonisch nicht erreichen. Und ob er nach Konolfingen gehen könnte, hat sie ihn gefragt.

«Komisch», sagte er halblaut, als er aus dem Lift trat.

«Was ist komisch, Herr Saner?», fragte Frau Allemann von der Wohnung auf seinem Stockwerk gegenüber. Sie war um die achtzig, eine aktive Frau und humorvoll.

«Ach, die Welt und alles Drum und Dran», sagte Eric.

Frau Allemann sah das Bild von Frau Wyder.

«Das ist schrecklich. Diese arme Frau. Ich habe es in der BZ gelesen. Warum wurde sie polizeilich gesucht?»

«Angeblich wegen Werkspionage und versuchter Tötung. Jetzt wird ihr Mann verdächtigt. Ich finde, das ist eine komische Sache.»

«Ja, Herr Saner. Die Welt ist nicht nur komisch, sondern verrückt, nicht wahr? Jetzt muss ich gehen, der Zug wartet nicht auf mich. Ich gehe zu meiner Schwester nach Luzern. Habe sie schon ... Herr Saner, auf Wiedersehen. Ich muss mich beeilen», sagte sie und die Lifttür schloss sich hinter ihr. Eric ging in seine Wohnung. Er legte die Zeitung auf den Tisch. Dann liess er sich einen Kaffee raus und setzte sich vor die Zeitung. Lange starrte er auf das Bild von Frau Wyder. Es war ein Fahndungsfoto. Er überdachte den ganzen Ablauf der kurzen Begegnung mit der Frau. Vor was hatte sie Angst? Sie hatte sich ... panikartig umgesehen. Betrachtete die Gesichter der Vorbeigehenden mit Angst, die sie unter der Sonnenbrille zu verstecken suchte. Er nahm einen Schluck Kaffee und ordnete seine Gedanken. Sollte er zur Polizei gehen? Irgendetwas widersprach diesem Gedanken. Die Frau hatte ihm einen sympathischen Eindruck gemacht. Nicht den einer Kriminellen. Eher wie ein gejagtes Wild. Wobei, er habe bislang nie ein gejagtes Wild gesehen, gestand er sich ein. Was ist mit dem Mann?

«Ich werde morgen um zwei Uhr nach Konolfingen gehen», entschloss er sich. «Ich will wissen, was die Frau mir sagen wollte. Sie hat mich ausgewählt ... Wenn sie nur nicht gegangen wäre, so abrupt und ohne sich zu verabschieden. Sie hatte vor Evelyn Angst. Warum?» Eric griff zum Handy auf der Theke und wählte Evelyn. Gestern hatte er sie nicht gesehen. Sie hatte eine Verabredung mit zwei Freundinnen. Heute Abend war er verhindert, eine Studentenfete, an die er Evelyn nicht mitnehmen wollte. Nicht, dass er sich schämte, weil sie keinen akademischen Grad besass. Nein, die Freundschaft zu Evelyn war zu zart, um sie einer solchen Fete auszusetzen. Manchmal artete so etwas aus ... auch bei angehenden Akademikern. Und morgen wird er sie ebenfalls vermissen. Sie habe eine Familienangelegenheit. Deshalb war Konolfingen gut für ihn.

«Ja, was hast du auf dem Herzen, Eric», meldete sie sich.

«Hast du Stress?»

«Nein, im Moment sind die Frauen beim obligaten Putzen», sagte Evelyn und lachte.

«Oder liegen im Marzili, tummeln sich im Wasser oder flanieren der Aare entlang.» Eric lachte.

«Du, die Frau in der Zeitung, die Ermordete, das ist die, mit der du gesprochen hast im Le Mazot?», erkundigte sich Evelyn.

«Ja, ich habe es gelesen. Es ist fürchterlich. Was wollte sie mir sagen? Ich kann nichts dafür, dass sie jetzt tot ist. So etwas konnte ich nicht vermuten.»

«Vielleicht musst du zur Polizei gehen.»

«Ich möchte nicht. Zuerst will ich versuchen, morgen mit Herr Wyder zu sprechen. Es nimmt mich wunder, was da los ist.»

«Du studierst Medizin und nicht Kriminologie. Das ist ein gewisser Unterschied», meinte Evelyn lachend.

«Auf der Suche nach Bakterien und Viren, hat das mit Kriminalistik zu tun. Nur haben wir keine sichtbaren Handschellen. Ich will niemandem Handschellen anpassen, sondern nur verstehen, was die Frau mir mitteilen wollte. Ich war vermutlich einer der Letzten, der mit ihr gesprochen hat.»

«Oh, Eric, ich muss Schluss machen. Die vom Marzili sind aufgetaucht. Wir kriegen Kundschaft.»

«Oder die vom Samstags-Putzen haben ihre Arbeit beendet», ergänzte Eric. «Tschüss, liebe Frau. Ich sehne mich nach dir und werde dich in den nächsten langen Tagen vermissen.»

«Bis bald, mein lieber Eric. Ich habe ebenfalls schon jetzt grosse Sehnsucht. Tschüss.»

 

Eric verbrachte den Samstag mit herumlungern, auf dem Bett, in der Küche, auf dem Balkon und im Wohnzimmer, beim Fernsehen und lesen. Er hatte keine Lust, vor dem Abend in die Stadt zu gehen. Um sechs rasierte er und machte sich für den Ausgang zurecht. Es war ein langweiliger Abend gewesen, gestern. Einige waren betrunken und sonst waren es die üblichen Gespräche. Einige prahlten mit ihren Weltreisen, den Autos und den Eroberungen. Andere versuchten, mit den Frauen anzubandeln. Und Eric fühlte sich draussen. Seine Gedanken waren bei Evelyn.  Nach einem ausgiebigen Schlaf bis zehn Uhr stand er auf und machte sich zurecht. «Im Grunde genommen», fand er, «bin ich zufrieden.»

Er fühlte sich in der Zweizimmerwohnung in diesem Block wohl. Seine Eltern ermöglichten ihm diesen Luxus, den andere Studenten sich nicht leisten konnten. Der Weg von Interlaken, wo sein Vater und die Mutter ein Hotel führten, wäre zu lang. Hätte zu viel Zeit in Anspruch genommen. Das Auto war für ihn reiner Luxus. Es war ein Geschenk seines Vaters. Meistens stand es unten in der Einstellhalle. Heute würde er es brauchen. Er wollte nicht mit dem Zug hinfahren. Nach dem Treffen mit Herrn Wyder, beabsichtigte er auf die Mänziwilegg zu gehen. Dort war er früher als Kind mit Onkel Peter, dem Bruder seiner Mutter. Dieser war Polizist, und dort haben sie gegrillt, gespielt und Nachmittage verbracht. Er dachte an diese Zeit zurück. Wollte wieder mal den Ort des Glücklichseins in der Vergangenheit besuchen.

 

Eric war um halb zwei beim Bahnhof Konolfingen. Er stand an der Ecke zum Restaurant Bahnhöfli in der sengenden Sonne. Schatten hatte es keinen. Er konnte den Bahnhof und den Platz davor überblicken. Das Auto hatte er nebenan auf einem Parkplatz abgestellt. Verkehr hatte es nicht. Und keine Fussgänger waren unterwegs. Zu heiss. Eric trug Sandalen und kurze braune Hosen und ein weisses T-Shirt. Er hatte beim Kiosk den Sonntags-Blick gekauft. Wollte nachsehen, ob über den Fall Wyder weiteres berichtet wurde. Es hatte nur einen kleinen Text: Wyder sei nach wie vor unbekannten Aufenthalts. Frau Wyder sei erwürgt worden. Zeugen würden gesucht. Die Zeitung lag im Auto auf dem hinteren Sitz zusammen mit dem Bund von gestern. Kurz vor zwei Uhr traf ein Zug aus Thun ein. Eric wartete und musterte die Leute, die von der Unterführung hochstiegen. Ein Ehepaar mit zwei Kindern kam, die Kinder quengelten. Ihnen folgte eine Frau. Nach einer Weile tauchte ein Mann auf, der sich vorsichtig umsah.

‚Das muss er sein‘, dachte Eric. Er ging langsam auf ihn zu. Der Mann war ungepflegt, nicht rasiert, seit Tagen, und das Haar stand ihm wirr. Eric erschrak, näherte sich ihm und sagte: «Herr Wyder?»

Der Mann zuckte zusammen. Für einen Moment schien es, als ob er weggehen wollte. Doch irgendwie reagierte er resigniert.

«Herr Wyder, keine Angst, ich will nichts von Ihnen. Ihre Frau hat mich gebeten, hierher zu kommen und mich mit Ihnen zu treffen. Mein Name ist Eric Saner, ich bin Medizinstudent.»

Misstrauisch musterte Karl Wyder den jungen Mann.

«Was ist mit ... wo ist meine Frau?», fragte er; Angst klang in der Stimme.

Jetzt geriet Eric in eine Notlage. Wie sollte er dem Mann erklären, dass seine Frau tot war. Scheinbar wusste er es nicht. Eric betrachtete diesen, man konnte sagen, verwahrlosten Mann, der sechzig sein mochte. Wunderte sich, wie ein Professor in einen solchen Zustand geraten konnte. Er war nicht grösser als Eric, war von hagerer Statur. Sein Gesicht war länglich mit hoher Stirn. Die grauen Haare waren ungepflegt.

«Sagen Sie endlich, was mit meiner Frau ist», forderte Wyder.

«Ach, kommen Sie mit zum Auto. Wir werden hier beobachtet. Es ist besser, wenn wir uns hier verschieben. Mein Auto ist gleich da drüben auf dem Parkplatz.»

Leute, die sie beobachteten, sah er keine. Eric dachte, dass es besser wäre, wenn Wyder sitzen würde. Die Nachricht vom Tod seiner Frau könnte ihn ohnmächtig werden lassen. Der Mann war enorm geschwächt. Er fasste Wyder am rechten Arm und zog ihn Richtung Parkplatz.

«Ich kann nicht. Ich habe mit meiner Frau abgemacht. Ich warte hier», wehrte sich der Mann und versuchte den Griff von Eric abzuschütteln.

«Herr Wyder, sie werden polizeilich gesucht und Ihre Frau kommt nicht. Sie hat mir gesagt, dass ich kommen soll», erklärte Eric. «Es ist besser, wenn wir hier verschwinden.»

Jetzt gab Wyder nach und folgte ihm zum Auto. Im Auto war es wie in einem Backofen. Eric kurbelte das Fenster runter und forderte Wyder auf, auf seiner Seite ebenfalls zu öffnen. Es brachte keine Linderung.

«Es ist nicht zum Aushalten», meinte er und startete den Motor.

«Wohin fahren Sie?», wollte Wyder erschrocken wissen.

«Es ist besser, wenn wir hier verschwinden. Wir gehen auf die Mänziwilegg, das ist ein Ort, wo wir über alles reden können.»

«Sagen Sie mir endlich, warum meine Frau nicht kommt und warum sie Sie geschickt hat?» Wyder schaute ihn mit geweiteten Augen von der Seite an.

Eric war sich bewusst, dass er es nicht im fahrenden Auto sagen durfte. Er steuerte den Wagen – sie waren ausserhalb Konolfingens – an den Strassenrand, an einem Ort, wo sie den Verkehr nicht behinderten. Er atmete tief durch. Und schaute dem sie überholenden Auto nach.

«Herr Wyder», begann er, «es tut mir leid. Ich denke ... ich ... Sie haben gestern die Zeitung nicht gelesen. Ihre Frau ... ist tot ... »

«Was sagen Sie da?!» Die Augen von Wyder weit aufgerissen, voller Entsetzen, ungläubig starrte er auf Eric. «Das ist nicht wahr!», stiess er hervor.

«Doch. Es tut mir leid. Sie ist im Hotel National in Bern ermordet worden. Es stand gestern in der Zeitung.» Eric drehte sich nach hinten und griff nach der gestrigen Ausgabe und dem Sonntags-Blick, reichte sie Wyder. Dieser faltete sie auseinander. Wyder sass da und starrte vor sich hin. Keine Regung. Eric wusste nicht, wie er reagieren sollte. Es blieb still. Die Zeit verstrich und begann schwer zu lasten.

«Nein! Nein!», schrie es plötzlich aus Wyder. Er krampfte sich zusammen und sank nach vorn. Die Hände zerknüllten die Zeitung und mit einem plötzlichen Ausbruch spannte sich sein Körper, bäumte sich auf und stiess mit dem Kopf an das Dach. Die Zeitung riss. «Diese Schweine! Nein! Paula!»

Eric sass da und wusste nicht wie reagieren, was werden sollte. Sagen konnte er nichts. Es hätte keinen Sinn gemacht. Wyder musste da durch. Dieser sass starr, sackte zusammen. Der Kopf fiel nach vorne und mit beiden Händen bedeckte er sein Gesicht. Nach einiger Zeit richtete er sich auf.

«Bitte, fahren Sie», bat er. Seine Stimme war gebrochen. Eric startete automatisch den Motor und fuhr los. Es blieb still zwischen ihnen. Wyder sass mit gesenktem Kopf an die Rückenlehne gelehnt und starrte auf den Boden. Eric wusste nicht, ob er sprechen sollte und entschied sich für schweigen. Er parkte abseits der Strasse, oben auf der Mänziwilegg. Im Kofferraum hatte er eine Decke. die führte er mit sich, um an einem lauschigen Plätzchen zu picknicken. Er breitete die Decke im Schatten einer grossen Buche aus.

«Bitte, setzen Sie sich», bat er den Mann, der zehn Jahre gealtert schien. Mit hängenden Armen, gebeugtem Rücken, den Kopf gesenkt, stand er da. Augen, die Bände sprachen – Angst, Entsetzen und Unsicherheit in einem.

«Bitte, Herr Wyder, setzen Sie sich. Erzählen Sie mir, was los ist, wie das alles gekommen ist.»

Langsam folgte der Mann der Einladung und liess sich auf der Decke nieder. Er lehnte sich gegen den Stamm der Buche. Mit einem tiefen Atemzug holte er Luft, stiess sie heftig aus. Mit zittrigen Fingern versuchte er den zweitobersten Hemdknopf zu öffnen, was ihm mühsam gelang.

«Sagen Sie mir endlich, warum Sie gekommen sind. Wie kamen Sie mit meiner Frau in Kontakt?» Wyders Stimme leise und verzweifelt. Er schaute Eric feindselig, gereizt in die Augen. Er wusste nicht, was der junge Mann mit ihm wollte. Hatte sich unüberlegt blindlings und hilflos in dessen Hände begeben. Eric berichtete ihm den Vorfall auf der Terrasse vom Restaurant Le Mazot.

«Ich weiss nicht, warum sie beim Erscheinen von meiner Freundin ohne Verabschiedung wegging. Sie war voller Angst. Können Sie mir erzählen, was los ist?», wollte Eric wissen. Er spürte, dass der Mann hungrig und durstig zu sein schien.

«Herr Wyder, haben Sie Hunger und Durst?»

«Ja, ich habe seit ein paar Tagen wenig gegessen. Wie Sie sehen, bin ich ungepflegt. Ich habe seit zwei Tagen draussen übernachtet. Zudem wurde mir die Tasche mit meinen Utensilien gestohlen. Geld habe ich noch weniges – ein paar Franken. Ich getraue mich nicht, an Geldautomaten zu holen. Da könnten sie herausfinden, wo ich mich aufhalte.»

Eric stand auf. «Warten Sie hier. Ich hole drüben beim Restaurant zu essen», sagte er und ging auf den Weg zum Restaurant. Er sinnierte, was er tun sollte. Jetzt war es halb drei, und er hatte einen Mann, der polizeilich gesucht wurde.

«Ich muss herausfinden, was da dahinter steckt», sagte er halblaut.

Im Restaurant bestellte er zwei Cervelats, Brot und eine grosse Flasche Mineral zum Mitnehmen.

«Mein Vater und ich wollen picknicken und haben nichts mitgenommen», sagte er auf den fragenden Blick der Servicefrau. Die Wirtin rüstete das Bestellte, legte es in eine Tragtasche und gab ihm zwei kleine Senftuben und zwei Kunststoffbecher. Damit ging er zurück zu Wyder. Der sass an den Stamm gelehnt und schlief. Eric liess ihn und hoffte, dass er Schönes träumen möge. Nach einiger Zeit bewegte sich Wyder, drehte sich und sank neben dem Stamm ins Gras. Er erwachte.

«Oh, ich bin eingeschlafen», sagte er und richtete sich umständlich auf. Mit der Hand fuhr er sich durch das Haar. «Duschen sollte ich mich. Ich bin das reinste Stinktier», sagte er leise. «Entschuldi-gen Sie bitte mein Aussehen. In diesem Heu-schober oberhalb Frutigen hatte es kein Wasser, kein Strom, hatte ja nichts mehr. Mir wurde in Luzern die Tasche mit den spärlichen Utensilien gestohlen.»

«Kein Problem», antwortete Eric, der ihm gegen-über sass. «Ich denke, dass es eine schwierige Zeit für Sie ist. Jetzt, nach dem Tod Ihrer Frau. Essen Sie bitte. Es ist alles für Sie.»

Wyder griff nach dem Brot und der Wurst. Er zog dieser die Haut ab und biss gierig zu. Es blieb still. Nur das Kauen, das Gezirpe der Grillen und Heuschrecken war zu hören. Zwischendurch das Zwitschern eines Vogels. Den Meisten war es zu heiss. Nachdem Wyder seine Cervelat vertilgt, fast die ganze Flasche Wasser getrunken hatte, richtete er sich an Eric. «Warum haben Sie nicht die Polizei verständigt, da diese mich sucht und des Mordes verdächtigt und kommen her?»

«Ihre Frau hat mich berührt – besonders da sie nun tot ist. Für mich war, nachdem ich den Bericht gelesen hatte, klar, dass ich komme. Ich habe das Gefühl, dass da etwas nicht stimmt. Ich wäre froh, wenn Sie mir berichten könnten, dass ich da nicht falsch liege.»

«Da haben Sie recht. In dieser Geschichte ist vieles faul. Paula und ich sind in eine riesige Mafiabande geraten. Und da steckt ein Teil der Zugerpolizei und sogar deren Spitze mit drin.»

«Sind Sie sicher?»

 

«Ja, und Japaner. Ich weiss nicht, was die planen. Ich konnte mich vergewissern, und dann haben wir uns an die Polizei gewandt. Das ist der Grund, weswegen sie mich der Werkspionage beschuldi-gen. Es ist eine lange Geschichte, junger Mann. Wenn Sie sie hören möchten, erzähle ich sie Ihnen gerne. Vielleicht hilft es mir, das Ganze klarer zu sehen, im Moment sind meine Gedanken wirr, und ich fresse alles in mich hinein. Tagelang mit niemandem reden, da werden Einsamkeit, Verzweiflung und die übrigen Zweifel immer stärker.»